«Wir pflanzen hier Demut» (2016/17) nach Textfragmenten der Deutsch-Jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs und «Erinnerungen aus dem Verlies» (2015–18) nach Gedichten des Uruguayanischen Tupamaros Mauricio Rosencof. Die Gedichte beider Autoren entstanden am Rande des Nichts; jene von Nelly Sachs aus der Erfahrung des Holocaust, jene Maurico Rosencofs aus der Erfahrung einer 11 Jahre dauernden Haft in den Kerkern Uruguays. Und beide glaubten an ein visionäres Danach. Texte und Musik schaffen immer wieder Durchbrüche zum Leben; der Sehnsucht nach Etwas wird Flügel verliehen. Es ist eine grosse Freude und auch ein Glücksfall, dass der Bariton Andreas Scheibner für die Interpretation dieser beiden Liederzyklen gewonnen werden konnte. Vielen Opernbesuchern wird Scheibner in bester Erinnerung haften als Interpret und Darsteller des Gerardo in der Uraufführung Zwickers «Oper Der Tod und das Mädchen» in Dresden und der Schweizer Erstaufführung am Theater St. Gallen.
WIR PFLANZEN HIER DEMUT (2016/17) nach Gedichtausschnitten von Nelly Sachs für Bariton, Klavier, Violine und Violoncello «Wir pflanzen hier Demut» entstand 2016/17 als Auftragswerk der Stadt Zürich; das Werk wurde 2017 im Rahmen des «Musikpodiums» uraufgeführt. Der Fokus der Textausschnitte ist auf den Glauben an das Gute ausgerichtet, trotz des herrschenden Schreckens und rückt die Liebe, das Licht, und das Göttliche im Menschen ins Zentrum. Mit dem fina- len Stück «Und Metatron der höchste aller Engel» wird der Höhepunkt dieser Textdramaturgie erreicht. Diese lyrischen Fragmente werden durch gleich beginnende und strukturierte Verse aus dem Gedicht «Immer dort wo Kinder sterben» unterbrochen. Dadurch erlangen diese Verse eine Refrain-Funktion und formen die Textdramaturgie zu einem Rondo-Charakter. Dieser prägt nach und nach auch das formale Geschehen im Sinne des musikalischen Rondos. In den Refrain-Teilen wird zwar vom Sterben der Kinder gesprochen, aber im Zentrum steht nicht der Tod, sondern es wird das Wunderbare, Geheimnisvolle, das Unverdorbene als menschliches Potential gezeichnet, das allerdings durch den Kindheitstod sich in der Welt nicht manifestieren kann.
ERINNERUNGEN AUS DEM VERLIES (2015–18) UA nach Gedichten von Mauricio Rosencof für Bariton, Saxophon, Akkordeon und Schlagzeug «Fast alle Gefangenen verwandeln ihr Leiden in einen Gesang.» Dieser Satz von Mauricio Rosencof wirkte seit 2005 in mir und war ausschlaggebend für meinen Entschluss ein Stück mit Texten von Rosencof zu komponieren. Unter widrigsten und unvorstellbaren Bedingungen sass Rosencof über 11 Jahre in Isolationshaft in den Kerkern Uruguays – und er hat überlebt! Die für den Zyklus ausgewählten Gedichte, die ausnahmslos auf geheimste Art in den Kerkern entstanden sind, erzählen von der Düsternis, den Ängsten, von den Sehnsüchten, den Träumen und den Illusionen, von denen Rosencof während 4196 Tagen und Nächten heimgesucht wurde. Die Instrumente Saxophon, Akkordeon und Schlagzeug bilden eine Trio-Besetzung. Die Saxophone (Bariton, Tenor, Alt) mit ihrer Nähe zur menschlichen Stimme erklingen als ergänzende imaginäre Stimme des Gefangenen. Das Akkordeon, mit seinem weit gespannten Umfang und den pneumatischen Klangmöglichkeiten, führt in die dunklen Zonen der Kerker, artikuliert Ängste und Endstadien, entflieht aber auch in die Gedanken der Träume und Illusionen. Torturen, Dunkelheit und entschwindende Sehnsüchte und Erinnerungen sind die Klangzonen eines umfangreichen Schlagzeugapparates. Diese verschiedenartigen AusdrucksÂarten erklingen selten isoliert, sondern mehrheitlich sich überlagernd, Kräfte messend, um Vorherrschaft kämpfend. Der Zyklus ist von allem Anfang an als szenischer Monolog gedacht und gehört. Die szenische Realisation soll in meiner Installation «Torturada» umgesetzt werden, die aus meiner mehrjährigen Vor-, Haupt- und Nacharbeit zur «Oper Der Tod und das Mädchen» entstanden ist.
Alfons Karl Zwicker, 2018